Wie man die Lebenskraft bewahren kann – Teil 4

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Foto Mohn-Blüte

Frieden bewahren, dies entspricht dem Bewahren der Lebenskraft (prāṇa). Der physische Körper benötigt für seine Handlungen Lebenskraft. Die Lebenskraft (prāṇa) ist ebenfalls für das Mental unentbehrlich. Als Teil der menschlichen Natur gehört die Denkfähigkeit zu den Handlungen des Mentals. Genauso sind die gedanklichen Wahrnehmungen ein Bestandteil des Mentals. Die gedanklichen Reaktionen brauchen Lebenskraft und auch geistiger Wille ist eine Fähigkeit des Mentals, für die wir Menschen der Lebenskraft bedürfen.

Für diese mentalen Handlungen setzen wir Menschen die Lebenskraft ein. Umso mehr erschöpft sich die Lebensenergie (prāṇa) für die vitalen Handlungen, denn es sind die „niederen“ Eigenschaften des menschlichen Bewusstseins. Es sind Eigenschaften wie Verlangen (Wünsche) und alle Reaktionen auf diese Wunsch-Energie. Es sind die Begierden, welche Reaktionen wie Ärger/Wut, Furcht/Angst, Gier, Festhalten, Lust, Zu- und Abneigungen u.v.a.m. hervorbringen und die Lebenskraft (prāṇa) unaufhörlich verbrauchen.

Demut ist die Kraft, welche uns davor bewahrt, dass der eigene Charakter nicht verarmt. Demut bringt eine Besänftigung sowie eine Reinigung in die 3 Schichten des Mentals. Demut kann die abhanden gekommene Harmonie in den 3 Schichten des Mentals wieder neu erzeugen. Die intellektuelle, die emotionale und die sensorische Schicht des Mentals überlagern die Zellen der stofflichen Substanz. Demut ist eine innere Kraft, welche die stoffliche Substanz vor Beschwerden und Schwächen behüten kann und die Lebenskraft (prāṇa) enorm bewahrt. Demut bildet in jedem Menschen die innere Fähigkeit eines selbstlosen Handelns heran. Es entwickelt sich ein Handeln, welches auf die Früchte des Handelns verzichtet und auf Verzicht folgt Friede (Die Bhagavadgita, Kapitel 12, Vers 12 von Sri Aurobindo, 1872 – 1950). Frieden im physischen Körper und im Mental bewahren, dies bedeutet, die Lebenskraft zu bewahren. Eine Öffnung für eine neue körperliche und mentale Gesamtverfassung wird möglich und ebenso eine Berührung mit neuen Fähigkeiten. Auf Verzicht folgt Friede. Frieden ist mehr als ein Ruhezustand, Frieden ist mehr als Stille. Frieden ist ein Gefühl einer gefestigten und harmonischen Ruhe und Befreiung in sich (Briefe über den Yoga von Sri Aurobindo, 1872 – 1950).

Frieden soll sich in der intellektuellen Schicht, Frieden soll sich in der emotionalen und genauso in der sensorischen Schicht ausbreiten dürfen. Frieden soll uns eine durchlässigere Ausdrucksform in der Erkenntnishülle (vijñānamaya kośa), in der Hülle des Denkbewusstseins (manomaya kośa), in der aus Lebensenergie gebildeten Hülle (prāṇamaya kośa) ermöglichen und die „Knoten“, welche sich in der physischen Hülle (annamaya kośa) gebildet haben, die „Knoten“ ungünstiger Gewohnheiten auflösen.

Wenn ein Mensch in Berührung mit der Quelle der Lebenskraft (prāṇa) kommen möchte, dann ist Mässigung der mentalen und vitalen Aktivität wichtig und somit der Pfad der Disziplin (niyama). Demut bringt uns in Resonanz mit der Schwingung der Liebe, der Hingabe (īśvara praṇidhānāni). Hingabe ist die Fähigkeit, beiseite treten zu können, um einem anderen Bewusstsein Platz zu verschaffen. Demut fördert gleichzeitig Achtsamkeit. Beide Fähigkeiten sollen harmonisch ausgebildet werden, denn:
< Wenn die Hingabe überwiegt, lässt die Achtsamkeit im Allgemeinen nach und auch umgekehrt, wenn die Achtsamkeit überwiegt, lässt die Hingabe nach und die Entdeckung, der in uns wohnenden Übereinstimmung oder EINHEIT wird dadurch erschwert. > (Aussage vom 19. Februar 1969 von Mirra Alfassa). Hingabe und Achtsamkeit ermöglichen den Verzicht auf die „Früchte“ unserer körperlichen und mentalen Handlungen und bringen Frieden hervor. Wir dürfen diese Harmonie zwischen Hingabe und Achtsamkeit auch als die Fähigkeit des selbstlosen Handelns, des selbstlosen Dienens (sevā) erkennen. Niklaus von Flüe drückt dies mit seinem wunderschönen Gebet aus: < Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir. Mein Herr und mein Gott, gib‘ alles mir, was mich fördert zu dir. Mein Herr und mein Gott, nimm‘ mich mir und gib‘ mich ganz zu Eigen DIR. > Selbstloses Handeln, selbstloses Dienen oder sevā meint: ich bin DEIN. Ich bin dein harmloses, dein unschuldiges Kind und dies ist ein guter Weg, die physischen Zellen vom Druck der mentalen und vitalen Ebene zu befreien. Dies ist mit der ersten und wichtigen Aufgabe auf dem Yoga-Pfad gemeint und kommt mit folgenden Worten von Satprem (1923 – 2007, engster Schüler von Sri Aurobindo und Mirra Alfassa), nämlich „frei atmen zu dürfen“ zum Ausdruck.

Das Thema < Wie man die Lebenskraft bewahren kann > endet bald und es werden einige Ausführungen bezüglich āsanā sādhana folgen. An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass es bei āsanā sādhana darum geht, die körperlichen Zellen von den „Knoten“ zu befreien, welche hauptsächlich von unguten Eigenschaften der mentalen und vitalen Ebene gebildet und mit der inneren Tugend Demut aufgelöst werden können. Die physischen Zellen sind sehr gutmütig und harmlos wie ein Kind. Immerzu wollen sie einer höheren Instanz in uns folgen und nicht den Anweisungen der 3 Schichten des Mentals. Es ist klug, diese Zellen von körperlichen Beschwerden und Krankheiten, von Anspannung, Festigkeit sowie Starrheit und genauso von geistiger Stumpfheit, von Eigensinn, Hartnäckigkeit, Rechthaberei u.a.m. zu lösen und sie von Unbeweglichkeit, Fixiertheit, Blockierungen und lähmendem Stillstand zu befreien. Allen körperlichen Zellen soll Freundlichkeit, Barmherzigkeit und viel Freude gegönnt werden, damit sie wieder physischen, vegetativen und mentalen Gleichmut erfahren dürfen.

Demut bringt selbstloses Handeln/selbstloses Dienen (sevā) während der āsanā sādhana hervor und verbreitet Ruhe im physischen Körper, verbreitet Stille im Mental und öffnet uns für die Empfindung ich bin DEIN. Demut unterstützt den Erfolg im selbstlosen Handeln/im selbstlosen Dienen und öffnet uns für die heilvolle Erfahrung und Empfindung: DU bist mir lieb, ich segne dein LEBEN (inspiriert von Sri Chinmoy, spiritueller Lehrer, 1931 – 2007). Dies ist die Erfahrung von sevā, einem Handeln ohne nach den Früchten zu trachten.

Mit folgenden Worten von Rabindranath Tagore endet dieser letzte Teil über: wie man die Lebenskraft bewahren kann.
< Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und sah, das Leben ist Dienen. Ich handelte, und siehe, das Dienen war Freude. >